Gegen geschlechtsspezifische Gewalt ist ein entschlossenes Vorgehen nötig Menschenrechtskrise in Mexiko: Frauen und Mädchen in Gefahr

Politik

Täglich werden in Mexiko durchschnittlich mehr als zehn Frauen getötet. Hinzu kommen unzählige Sexualstraftaten, Gewalt im häuslichen Umfeld durch Partner, im öffentlichen Raum durch Polizei oder Militär sowie Angriffe in den sozialen Medien.

Protest gegen Femizide in Mexiko, März 2016.
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Protest gegen Femizide in Mexiko, März 2016. Foto: Eneas De Troya (CC BY 2.0 cropped)

10. Dezember 2021
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Zu den besonders betroffenen Personengruppen gehören indigene Frauen und Migrantinnen, die zudem häufig rassistische Gewalt erleben, sowie trans* Frauen, Menschenrechtsverteidigerinnen, Feministinnen und Journalistinnen.

Geschlechtsspezifische Gewalt und Feminizide als ihr extremer Ausdruck sind in Mexiko alltäglich. Zwischen 2018 und 2020 wurden nach offiziellen Angaben landesweit über 11.200 Frauen und Mädchen getötet – im Schnitt mehr als zehn Frauen pro Tag. Über 23.500 Frauen gelten offiziell als verschwunden. Im selben Zeitraum verzeichneten die Behörden 151.000 Sexualstraftaten, darunter etwa 38.000 Vergewaltigungen, sowie 610.000 Fälle von Gewalt im häuslichen Umfeld, die sich überwiegend gegen Frauen und Mädchen richteten.

Allein 2020 erlebten zudem über neun Millionen Frauen und Mädchen digitale Gewalt etwa in Form von Hasskommentaren, Beleidigungen oder Überwachung. Die Betroffenen erfahren Gewalt nicht nur im privaten Umfeld durch Familienmitglieder oder Bekannte, sondern oft auch durch Mitglieder der organisierten Kriminalität sowie durch Angehörige von Polizei, Militär und Guardia Nacional.

Während der Covid-19-Pandemie hat sich das Risiko für Frauen, Gewalt im häuslichen Umfeld zu erfahren, dramatisch erhöht. Im ersten Monat nach Inkrafttreten der Ausgangsbeschränkungen im April 2020 gingen laut Behördenangaben 42 Prozent mehr Notrufe wegen Übergriffen gegen Frauen als im Vorjahresmonat ein. Schutzeinrichtungen verzeichneten ebenfalls einen starken Anstieg an Hilfegesuchen.

In 22 der 32 Bundesstaaten Mexikos gilt derzeit wegen des überproportionalen Anstiegs an geschlechtsspezifischer Gewalt ein Notstand (Declaratoria de Alerta de Violencia de Género contra las Mujeres), der es den Behörden ermöglicht, Sondermassnahmen zu ergreifen, um die Gewalt zu beenden. Bereits 2018 kritisierte der UN-Frauenrechtsausschuss, dass sich Frauen und Mädchen in Mexiko weitverbreiteter Gewalt ausgesetzt sehen.

Zu den besonders betroffenen Personengruppen gehö- ren indigene Frauen und Migrantinnen, die zudem oft rassis- tische Gewalt erleben, trans* Frauen, Menschenrechtsver- teidigerinnen, Feministinnen und Journalistinnen. Frauenrechtsorganisationen und feministische Gruppen kämpfen seit Jahrzehnten gegen die ausufernde Gewalt an Frauen. Seit 2019 gibt es landesweit Grossdemonstrationen. Die Behörden reagieren

auf die Proteste mit enormer Repression. Menschenrechtsorganisationen dokumentierten zahllose Übergriffe staatlicher Sicherheitskräfte gegen friedlich Protestierende bis hin zu will- kürlichen Festnahmen, sexualisierter Gewalt, Folter und dem unrechtmässigen Einsatz von Schusswaffen. Gleichzeitig stigmatisieren und kriminalisieren sowohl führende Regierungs- vertreter*innen als auch Medien immer wieder die Protestierenden sowie ihre Forderungen und spielen das Ausmass an Gewalt gegen Frauen herunter.

Strukturelle Gewaltursachen: Straflosigkeit, machismo und fehlender politischer Wille Seit 2007 ist die Regierung Mexikos durch das Gesetz über den Zugang von Frauen zu einem Leben ohne Gewalt (Ley General de Acceso de las Mujeres a una Vida Libre de Violencia) dazu verpflichtet, umfassende Massnahmen zu ergreifen, um Frauen und Mädchen vor Gewalt zu schützen. Bundesstaaten und Kommunen haben seitdem diverse Präventions- und Hilfsangebote auf den Weg gebracht, darunter Nothilfe-Hotlines, Schutzhäuser, sichere Räume in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Angebote für psycho-soziale, medizinische und juristische Beratung (Centros de Justicia para las Mujeres). Die Generalstaatsanwaltschaft und bundesstaatliche Staatsanwaltschaften verfügen über Sondereinheiten (Fiscalías para los Delitos de Violencia contra las Mujeres y Trata de Personas), um geschlechtsspezifische Straftaten zu untersuchen. Feminizide gelten bereits seit 2007 juristisch ausdrücklich als Menschenrechtsverletzung. Seit 2012 ist Feminizid als eigener Straftatbestand im föderalen Strafgesetzbuch verankert.

Die steigende Zahl an Gewalttaten zeigt jedoch: Die Massnahmen reichen nicht aus, um Frauen und Mädchen wirksam zu schützen. Dafür verantwortlich sind im Wesentlichen drei Gründe:
  • Gesellschaftliche Strukturen schützen viel zu häufig die Täter, nicht die Betroffenen. Die in Mexiko in vielen Lebensbereichen allgegenwärtige Gewalt, die wachsende Militarisierung des öffentlichen Lebens und tief verwurzelte Geschlechterstereotype sowie machistische und patriarchale Praktiken, die durch Medienberichte reproduziert werden, schaffen ein Klima, in dem Frauen alltäglich Diskriminierung, Ausgrenzung und Herabsetzung erleben. Für Gewaltbe-troffene hat dies fatale Konsequenzen: Aufgrund gender-stereotyper Voreingenommenheit gehen Behörden Hilfe-gesuchen und Anzeigen etwa wegen Drohungen, verbalen und körperlichen Angriffen oder Verschwindens oft nicht nach. Gleichzeitig erleben Betroffene immer wieder, dass die Gewalt gegen sie verharmlost oder geleugnet wird.
  • Straflosigkeit ist in Mexiko die Regel. Bei neun von zehn Morden an Frauen werden die Täter nicht verurteilt. Zwar liegt die Urteilsquote bei Feminiziden mit 25 Prozent etwas höher – die Behörden behandeln allerdings nur ein Viertel aller Mordfälle an Frauen laut Gesetz als Feminizid. Bei allen anderen geschlechtsspezifischen Gewalttaten kommen die Täter noch deutlich häufiger straflos davon. Strukturelle Lücken in der Strafverfolgung begünstigen die flächendeckende Straflosigkeit: Beweismittel werden von den Behörden nicht angemessen gesichert und untersucht, grundlegende forensische und kriminalistische Analysen oft nicht durchgeführt. Auch wird nicht konsequent ermittelt, ob Gewalttaten aufgrund der Geschlechtsidentität der Betroffenen begangen wurden, obwohl eine solche Genderperspektive vorgeschrieben ist, um etwa Mord als Feminizid einzustufen. Andere Straftaten wie Folter oder Verschwindenlassen, die häufig mit Feminiziden oder sexualisierter Gewalt einhergehen, werden in vielen Ermittlungen kaum berücksichtigt.
  • Mangelnder politischer Wille bei Entscheidungsträger*-innen hat zur Folge, dass Institutionen, die für Gewalt-prävention, Schutzprogramme und Strafverfolgung zu-ständig sind, nicht über die finanziellen, personellen und technischen Mittel verfügen, um ihre Aufgaben zu erfüllen.
Polizei und Justiz fehlt es an spezialisierten Sachverständigen und technischen Geräten, Beratungsstellen verfügen über zu wenig Fachpersonal und Schutzräume. Während der Pandemie hat die Regierung mehrere Behörden mit drastischen Sparmassnahmen belegt. So wurde im Juni 2020 das Budget des staatlichen Fraueninstituts (Instituto Nacional de las Mujeres), das Gendergerechtigkeit fördern und geschlechtsspezifische Gewalt bekämpfen soll, um 75 Prozent gekürzt.

Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist ein globales Problem, das dringendes Handeln von Regierungen und Gesellschaften welt-weit erfordert. Mit Blick auf Mexiko empfiehlt die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko

der mexikanischen Regierung:
  • öffentlich das Ausmass und die Ursachen geschlechts-spezifischer Gewalt anzuerkennen.
  • staatliche Stellen, die für Strafverfolgung und den Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt zu-ständig sind, technisch, finanziell und personell ausreichend auszustatten.
  • darauf hinzuwirken, dass in den Strafgesetz-büchern aller Bundesstaaten Feminizid ein-heitlich und entsprechend dem Straftatbe-stand auf nationaler Ebene definiert wird.
der deutschen Bundesregierung:
  • geschlechtsspezifische Gewalt in allen Gesprächs-formaten mit der Regierung Mexikos als zentrales Thema anzusprechen und konkrete und messbare Fortschritte einzufordern, um Frauen und Mädchen vor Gewalt zu schützen.
  • die Regierung Mexikos aufzufordern, sicher-zustellen, dass staatliche Sicherheitskräfte die Menschenrechte respektieren, nicht mit Ge-walt gegen friedliche Protestierende vorgehen und dass Menschenrechtsverletzungen staat-licher Sicherheitskräfte etwa im Zusammenhang mit den Protesten umfassend aufgearbeitet werden.
der Europäischen Union:
  • die Regierung Mexikos an ihre internationalen Menschenrechtsverpflichtungen als Unterzeichner-staat der UN-Frauenrechtskonvention CEDAW und der Interamerikanischen Konvention von Belém Do Pará zu erinnern und darauf zu drängen, dass die Regie-rung die Empfehlungen der Fachausschüsse der Übereinkommen vollständig umsetzt.
  • über die EU-Botschaften einen regelmässigen Dialog mit Menschenrechts- und Frauenrechts-organisationen in Mexiko zum Thema geschlechts-spezifische Gewalt zu suchen.

Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko